Was haben Sie vermisst – in den letzten anderthalb Jahren während der Corona-Pandemie? Darüber habe ich in dieser Woche nachgedacht. Vermisst habe ich den Händedruck, die Gesichter, Begegnungen, das Singen und das Mahlhalten. Ich kenne einige Menschen, die haben darüber hinaus noch etwas vermisst. Etwas, das grundlegend ist für eine demokratische Gesellschaft. Sie sind dafür auf die Straße gegangen und haben Regeln missachtet. Sie sind Verschwörungstheorien auf den Leim gegangen und haben fahrlässig andere gefährdet. Sie haben etwas vermisst, obwohl es die ganze Zeit da war. Etwas, das ich überhaupt nicht vermisst habe: die Freiheit!
Es geht also um Freiheit. Doch was ist das eigentlich, Freiheit? Es gibt zum einen die Freiheit von etwas oder jemandem. Man befreit sich von ungeliebten Bindungen, von alten Gewohnheiten, von Autoritäten: Freiheit als Befreiung ist das, als Trennung von dem, was man ablehnt oder loswerden will. Zum andern gibt es die Freiheit zu etwas oder jemandem. Da hat jemand die Möglichkeit, Neues zu wagen: Das ist die Freiheit als Ermöglichung zum Aufbruch.
Es gibt auch eine genommene und eine geschenkte Freiheit. Einfaches Beispiel: Eine Mutter fordert ihren Sohn, der am Sonntagmorgen noch im Bett liegt, auf, mit zur Kirche zu gehen. Sie lädt ihn ein, aber sie zwingt ihn nicht. Als er nicht aufstehen will, sagt sie: „Du hast die volle Freiheit zu glauben oder nicht.“ Das ist die geschenkte Freiheit. Wenn der Sohn dann aber sagt: „Du hast mir doch die Freiheit gegeben, und allein deshalb brauche ich ja nicht mitzukommen. Ich kann machen, was ich will“; dann nimmt er sich die Freiheit heraus, dann ist das eine genommene Freiheit, die ohne Argumente auskommt und beliebig bleibt. Die Mutter will den Sohn zum Glauben befreien, der Sohn jedoch hat sich nur davon befreien wollen. Die geschenkte Freiheit fordert heraus, die genommene macht gleichgültig.
Hier wird für mich deutlich: Freiheit und Verantwortung brauchen einander, und Freiheit geht nicht ohne Bindung. Die Freiheit von kann infantil oder pubertär bleiben, weil man keine Verantwortung übernehmen will; die Freiheit zu ist erwachsen und reif, weil man seine eigene Verantwortung sieht und wahrnimmt. Freiheit will jeder, Verantwortung leider nicht. Die Freiheit drängt sich vor, die Verantwortung kommt, wenn überhaupt, erst später. Beide gibt es jedoch nur im Doppelpack: Zuspruch und Anspruch gehören zusammen.
Für mich gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Freiheit darf nicht beliebig sein, nicht einfach genommen werden ohne Rücksicht auf andere. Ich meine: Nicht der ist frei, der tun und lassen kann, was er will, sondern der ist frei, der wollen kann, was er soll. Also derjenige, der in aller Freiheit seine Verantwortung wahrnimmt. Nicht beliebig, sondern verbindlich.
Eine letzte Unterscheidung ist die zwischen innerer und äußerer Freiheit. Es gibt Menschen, die man mit Freiheitsentzug bestraft hat, auch um ihre Gedanken unschädlich zu machen. Gerade solche Menschen haben oft eine unglaubliche innere Freiheit entwickelt. Ich denke etwa an Dietrich Bonhoeffer oder Nelson Mandela. Die Gedanken sind frei, aber das ist mitunter sehr anstrengend, es bedarf einer großen inneren Disziplin. Andererseits gibt es Menschen, die jede äußere Freiheit haben und doch innerlich ganz gefangen sind. Die nicht zu sich selbst finden, nicht zu anderen, nicht zu Gott. Sie wollen alles haben und verlieren sich dabei selbst.
Für mich ist Freiheit ein hohes Gut. Sie ist immer eine geschenkte Freiheit. Ich möchte die Freiheit schützen, die mit Verantwortung zu tun hat. Die Freiheit aber, die man sich nur herausnimmt, die ansonsten beliebig bleibt, die sehe ich kritisch. Jeder kann sagen, was er will. Das Gemeinwohl jedoch geht vor. Toleranz ist nicht grenzenlos, sie beruht auf Gegenseitigkeit und endet bei der Intoleranz der anderen.
Auch Glauben hat für mich mit Freiheit und Verantwortung zu tun. Ich bin so frei, ich glaube an Gott – und wünsche Ihnen seinen Segen.
(Morgenandacht am 21.08.2021 auf WDR 3+5)