Montag, 23. August 2021

Freiheit

Was haben Sie vermisst – in den letzten anderthalb Jahren während der Corona-Pandemie? Darüber habe ich in dieser Woche nachgedacht. Vermisst habe ich den Händedruck, die Gesichter, Begegnungen, das Singen und das Mahlhalten. Ich kenne einige Menschen, die haben darüber hinaus noch etwas vermisst. Etwas, das grundlegend ist für eine demokratische Gesellschaft. Sie sind dafür auf die Straße gegangen und haben Regeln missachtet. Sie sind Verschwörungstheorien auf den Leim gegangen und haben fahrlässig andere gefährdet. Sie haben etwas vermisst, obwohl es die ganze Zeit da war. Etwas, das ich überhaupt nicht vermisst habe: die Freiheit!

 

Es geht also um Freiheit. Doch was ist das eigentlich, Freiheit? Es gibt zum einen die Freiheit von etwas oder jemandem. Man befreit sich von ungeliebten Bindungen, von alten Gewohnheiten, von Autoritäten: Freiheit als Befreiung ist das, als Trennung von dem, was man ablehnt oder loswerden will. Zum andern gibt es die Freiheit zu etwas oder jemandem. Da hat jemand die Möglichkeit, Neues zu wagen: Das ist die Freiheit als Ermöglichung zum Aufbruch.

 

Es gibt auch eine genommene und eine geschenkte Freiheit. Einfaches Beispiel: Eine Mutter fordert ihren Sohn, der am Sonntagmorgen noch im Bett liegt, auf, mit zur Kirche zu gehen. Sie lädt ihn ein, aber sie zwingt ihn nicht. Als er nicht aufstehen will, sagt sie: „Du hast die volle Freiheit zu glauben oder nicht.“ Das ist die geschenkte Freiheit. Wenn der Sohn dann aber sagt: „Du hast mir doch die Freiheit gegeben, und allein deshalb brauche ich ja nicht mitzukommen. Ich kann machen, was ich will“; dann nimmt er sich die Freiheit heraus, dann ist das eine genommene Freiheit, die ohne Argumente auskommt und beliebig bleibt. Die Mutter will den Sohn zum Glauben befreien, der Sohn jedoch hat sich nur davon befreien wollen. Die geschenkte Freiheit fordert heraus, die genommene macht gleichgültig.

 

Hier wird für mich deutlich: Freiheit und Verantwortung brauchen einander, und Freiheit geht nicht ohne Bindung. Die Freiheit von kann infantil oder pubertär bleiben, weil man keine Verantwortung übernehmen will; die Freiheit zu ist erwachsen und reif, weil man seine eigene Verantwortung sieht und wahrnimmt. Freiheit will jeder, Verantwortung leider nicht. Die Freiheit drängt sich vor, die Verantwortung kommt, wenn überhaupt, erst später. Beide gibt es jedoch nur im Doppelpack: Zuspruch und Anspruch gehören zusammen.

 

Für mich gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Freiheit darf nicht beliebig sein, nicht einfach genommen werden ohne Rücksicht auf andere. Ich meine: Nicht der ist frei, der tun und lassen kann, was er will, sondern der ist frei, der wollen kann, was er soll. Also derjenige, der in aller Freiheit seine Verantwortung wahrnimmt. Nicht beliebig, sondern verbindlich.

 

Eine letzte Unterscheidung ist die zwischen innerer und äußerer Freiheit. Es gibt Menschen, die man mit Freiheitsentzug bestraft hat, auch um ihre Gedanken unschädlich zu machen. Gerade solche Menschen haben oft eine unglaubliche innere Freiheit entwickelt. Ich denke etwa an Dietrich Bonhoeffer oder Nelson Mandela. Die Gedanken sind frei, aber das ist mitunter sehr anstrengend, es bedarf einer großen inneren Disziplin. Andererseits gibt es Menschen, die jede äußere Freiheit haben und doch innerlich ganz gefangen sind. Die nicht zu sich selbst finden, nicht zu anderen, nicht zu Gott. Sie wollen alles haben und verlieren sich dabei selbst.

 

Für mich ist Freiheit ein hohes Gut. Sie ist immer eine geschenkte Freiheit. Ich möchte die Freiheit schützen, die mit Verantwortung zu tun hat. Die Freiheit aber, die man sich nur herausnimmt, die ansonsten beliebig bleibt, die sehe ich kritisch. Jeder kann sagen, was er will. Das Gemeinwohl jedoch geht vor. Toleranz ist nicht grenzenlos, sie beruht auf Gegenseitigkeit und endet bei der Intoleranz der anderen. 

 

Auch Glauben hat für mich mit Freiheit und Verantwortung zu tun. Ich bin so frei, ich glaube an Gott – und wünsche Ihnen seinen Segen.


(Morgenandacht am 21.08.2021 auf WDR 3+5)

Freitag, 20. August 2021

Mahlhalten

Liebe Kumpanen! Vielleicht wundern Sie sich über diese Anrede: Liebe Kumpanen! Kumpane, das klingt wie Kumpel; wie jemand, mit dem man etwas aushecken will. Doch die Anrede hat schon ihren Sinn. Das Wort kommt von lateinisch „cum“ und „pane“. „Cum“ heißt übersetzt „mit“, und „pane“ heißt „Brot“. Kumpanen sind diejenigen, die miteinander ihr Brot essen, die also Gemeinschaft haben am selben Brot.

 

Das genaue Gegenteil von den Kumpanen sind die Eigenbrötler. Wer sein Brot alleine isst, wer keine Tischgemeinschaft sucht, wer sein Brot nicht teilen mag, der ist Eigenbrötler. Wer sich absondert und eigenartig wird, wer sein Leben nicht teilen, sich nicht mitteilen mag, der ist Eigenbrötler. Und meint am Ende, er kriegt sein Leben ganz allein gebacken.

 

In den letzten anderthalb Jahren sind viele zum Eigenbrötler geworden. Cafés und Restaurants hatten immer wieder geschlossen, private Gäste aus anderen Haushalten waren nicht erlaubt. Und so saßen viele allein am Tisch, waren auf sich selbst zurückgeworfen. Denen, die allein leben, ist das besonders schwergefallen. Die anderen hatten ja noch die Mahlgemeinschaft zu Hause, vielleicht sogar ihren „Gemahl“ und ihre „Gemahlin“. In diesen alten Worten schwingt noch mit, dass man beim Mahlhalten nicht nur das Essen teilt, sondern auch Gedanken, Nähe und Liebe, eben das Leben.

 

Die Bibel erzählt oft vom Mahlhalten. Zwei Mahlzeiten stechen besonders hervor: das Mahl der Fünftausend und das Mahl mit den Zwölf. 

 

Die Menschen hören Jesus lange zu. Nun ist es Abend, und alle haben Hunger. Seine Jünger wollen die Leute schon nach Hause schicken. Doch Jesus sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Ein kleiner Junge bringt fünf Brote und zwei Fische. Jesus betet und teilt. Und alle werden satt. Am Ende sind noch zwölf Körbe voll Brot übrig. Fünftausend Menschen sollen es gewesen sein. Ein wenig Brot reicht für alle.

 

Am Abend vor dem Karfreitag findet wieder ein Mahl statt. Jesus teilt das Brot und sagt: „Das ist mein Leib für euch.“ Er teilt den Wein: „Das ist mein Blut für euch, das ist mein Leben.“ Er will damit sagen: „Das bin ich für euch. Denkt an mich, wenn ihr Brot und Wein miteinander teilt.“ Am Tag darauf stirbt er am Kreuz. Als er aufersteht, begreifen seine Jünger, dass er mit dem Mahl sich selbst meint. Wenn die Jünger sein Mahl feiern, ist Jesus gegenwärtig.

 

Zwei besondere Mahlzeiten: Das Mahl der Fünftausend, das Mahl mit den Zwölf. Aus dem ersten entsteht das, was die Kirchen Diakonie nennen oder Caritas: Menschen, die müde und hungrig sind, haben ein Recht darauf, dass jemand mit ihnen teilt. Menschen, die traurig sind, brauchen Trost und Nähe. Wer krank ist, soll Hilfe bekommen. Dienst am Nächsten: Das ist der ganzen Kirche aufgetragen, das ist das Gebot der Stunde für alle.

 

Aus dem zweiten Mahl, dem Mahl mit den Zwölf, entstand die christliche Liturgie: das Abendmahl, die Eucharistie. Hier geht es um Jesus selbst, um seine Lebenshingabe am Kreuz. Hier wird Gemeinschaft geschenkt, miteinander und mit Gott. Kommunion ist ein gutes Wort dafür, denn Communio bedeutet Gemeinschaft. 

 

Das Brot der Diakonie, das Brot der Fünftausend ist für alle bestimmt. Daran sollen alle Anteil haben. Denn der Dienst am Nächsten kennt keine Grenzen. Das Brot der Eucharistie, das Abendmahl mit den Zwölf jedoch ist für die Freunde Jesu bestimmt. Es ist die Mitte derer, die Jesus wirklich nachfolgen.

 

Wenn Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, zu den Fünftausend gehören, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie Menschen begegnen, durch die Sie Gottes Güte erfahren und auf den Geschmack kommen. Und wenn Sie zu den Zwölf gehören, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie offen bleiben und andere auf den Geschmack bringen: Den Geschmack am Leben, am Glauben, an Gott.


(Morgenandacht am 20.08.2021 in WDR 3+5)

Donnerstag, 19. August 2021

Singen

In den letzten anderthalb Jahren durfte nicht gesungen werden. Nicht im Chor, nicht im Gottesdienst. Die Angst vor den Aerosolen war übermächtig, und das hatte einen guten Grund. Tatsächlich hätten die kleinen Partikel, die beim Singen in die Luft gelangen, andere anstecken können. Die Viren hängen sich einfach dran, es war also Vorsicht geboten. Und deshalb gab es keine Chorproben, und in der Kirche spielte die Orgel allein. Oder es gab jemanden, der mit vier Metern Abstand allein vorsingen durfte. Die Leute saßen da mit ihren Masken, sie sagten kein Wort und sangen keinen Ton. Das war nicht nur ein trauriger Anblick, es war eine liturgische Vollkatastrophe. Jedenfalls für mich, für einen Pfarrer, der auch Kirchenmusiker ist und immer ein Lied auf den Lippen hat.

 

Denn eigentlich ist Musik sehr gesund, sie macht klug und glücklich. Singen stimuliert das Abwehrsystem und die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers. Das ist sogar medizinisch untersucht worden. Wissenschaftler haben vor und nach der Probe eines Chores die Zahl der Antikörper im Blut gemessen, sie kamen zu dem Ergebnis: Während des einstündigen Gesangs war die Konzentration von Immunglobulin A und Kortisol deutlich erhöht. Diese Antikörper schützen unter anderem die oberen Atemwege vor Infektionen. Singen ist demnach ähnlich gesund wie Meditation und Sport. Nur eben nicht während einer Pandemie.

 

Singen stärkt die Ausdrucksfähigkeit und fördert persönliches Wohlbefinden. Wer regelmäßig singt, kann Atmung und Sauerstoffversorgung verbessern, den Kreislauf anregen und die Balance seines Körpers verbessern. Musikalität ist sogar eine Produktivkraft, die zu weiterer Kreativität anregt: Männer und Frauen, die früher musiziert haben, sind im Beruf nachweislich die besseren Teamleiter.

 

Singen ermutigt dazu, die verschiedenen Nuancen der Stimme zu nutzen; es ermutigt, über die Sprache bewusst emotionale Botschaften zu übermitteln. Das schafft eine weitaus verbesserte Kommunikation. Nur wer über die volle Kraft seiner Stimme verfügt, ist im Vollbesitz seines persönlichen Ausdrucks. Selbst das Altern wird durch Singen aufgehalten; weil es die Stimme jung hält, werden Alterungsvorgänge gebremst.

 

Musizieren kann wie kaum etwas anderes die kognitiven und sozialen, die emotionalen und kreativen Fähigkeiten gleichermaßen fördern. „Wer musiziert, nimmt keine Knarre in die Hand“, meint der Komponist Hans Werner Henze.

 

Obwohl heute die meisten Erwachsenen im privaten Umfeld nicht singen und in jungen Familien kaum noch Lieder geübt werden: Musikgruppen und Chöre finden erstaunlichen Zulauf. Vielleicht, weil Musik – wie der Glaube selbst – viel mit Freiheit zu tun hat, mit Spiel, mit Freude und Schönheit. Musik hat etwas Befreiendes, man beschäftigt sich mit ihr um ihrer selbst willen, einfach so. Und erfährt sich – bewusst oder unbewusst – als Geschöpf. Nur eine Kreatur hat Spaß an Kreativität, nur ein freies Geschöpf kann mit seiner Geschöpflichkeit spielen.

 

Ich freue mich, wenn wir wieder singen dürfen. Zuerst durch die Maske hindurch, dann wieder aus voller Kehle. Erst die Sehnsucht macht die Dinge klar. Wenn Ihnen, liebe Hörerin, liebe Hörer, heute ein Lied ans Ohr oder in den Sinn kommt, dann summen Sie einfach mit. Von den Engeln im Himmel heißt es, dass sie nicht quatschen, sondern singen.


(Morgenandacht am 19.8.2021 in WDR 3+5)

Mittwoch, 18. August 2021

Begegnung

Ja, ich gebe es zu: Ich bin Einzelgänger. Mit Gruppen und Teams kann ich umgehen, aber ich brauche dann immer wieder Zeit für mich selbst. Zeit mit mir allein. Deshalb habe ich manches in den vergangenen anderthalb Jahren nicht so stark vermisst wie andere: festliche Versammlungen, Partys und Feiern, Shoppen gehen. Der Verzicht darauf ist vielen Zeitgenossen unglaublich schwergefallen. Mir nicht. Ich habe manche ausgefallene Veranstaltung sogar als Entschleunigung wahrgenommen, als eine Art Eventfasten. Vermisst habe ich allerdings Konzerte. Erst die Sehnsucht macht die Dinge klar. 

 

In kleinen Gruppen fühle ich mich wohler. Begegnungen vis a vis. Intensive Gespräche mit wenigen Menschen. Wo man sofort in die Tiefe gehen kann, ohne Small Talk. Gute Begegnungen – davon kann ich lange leben. Wenn ein Gespräch entsteht und nicht nur Gerede. Wenn es um etwas geht. Das verändert dann oft meinen eigenen Blick, das gibt mir neue Einsichten und Perspektiven.

 

Die Bibel erzählt, wie Jesus Gemeinschaft stiftet. Wenn er seine Jünger sammelt ohne Vertrag und Programm. Wenn er Menschen heilt, die vorher ausgegrenzt waren. Und sie auf diese Weise resozialisiert. Aussätzige zum Beispiel – raus aus der Vereinzelung, hinein in die Gesellschaft. Oder wenn Jesus mit einer Frau spricht, mit der Frau am Jakobsbrunnen. Ihr ganzes Leben wird mit einem Mal durchsichtig, eine wirklich heilsame Begegnung. Am Karfreitag geht es für Jesus in die Vereinzelung. Keiner von seinen Freunden ist mehr da, und sogar Gott scheint sich aus dem Staub gemacht zu haben: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, schreit Jesus am Kreuz. An Ostern gibt es wieder Begegnungen, es geht von der Angst zum Vertrauen, aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft.

 

Besonders schön finde ich, was Christinnen und Christen von Gott selbst sagen. Sie glauben, dass er nicht einsam ist. Gott ist Gemeinschaft. Er ist so, wie er sich den Menschen gezeigt hat. Er ist der Schöpfer allen Lebens, der Urgrund und die Tiefe allen Daseins. Zugleich ist er menschlich nahe, das hat er gezeigt in Jesus Christus. Der ist gestorben und auferstanden, und hat damit alles Menschliche in Gott hineingenommen. Schließlich ist Gott die unbändige Kraft in allem, die heute noch am Werk ist und alles zusammenhält. Der Glaube drückt es in Bildern aus: Gott ist Vater, Sohn und Geist, er ist es nicht bloß nacheinander und nicht nur miteinander, sondern ineinander. Und auch dafür haben die Theologen der ersten christlichen Jahrhunderte ein Bild erfunden. Sie sagen: Gott ist dreifaltig. Es gibt drei Weisen, in denen sich das Geheimnis allen Lebens ausgesprochen hat: Vater, Sohn und Geist. Und weil dieser Gott eben ein Geheimnis ist und nicht etwa ein Rätsel, hat er sich so gezeigt, wie er wirklich ist. In ihm selbst geht es sehr lebendig zu, in ihm ist Gemeinschaft und Begegnung, sein Wesen ist Liebe. Dass Gott dreifaltig ist, hat dabei nichts mit Mathematik zu tun: „1 plus 1 plus 1 ist 3 und eben nicht eins.“ Wenn man aber die Zahlen nicht als Ziffern schreibt, sondern als Worte, dann wird es klar: drei sind eins. Sie sind sich einig. 

 

„Gott ist die Liebe“, heißt es im Neuen Testament (1 Joh 4,7). Das ist für mich der wichtigste Satz der ganzen Bibel. Wenn Menschen Gemeinschaft leben, dann ist das ein Bild der Liebe Gottes. Sie spiegeln damit das Wesen Gottes wider. Der zweitwichtigste Satz der Bibel ist für mich übrigens dieser: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab“ (Joh 3,16). Denn Liebe bedeutet Hingabe. Wo ich mein Leben verschenke, da entsteht etwas Neues, da wird die Welt verwandelt.

 

Ob Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, nun Einzelgänger sind oder Partylöwe, ob Sie Events mögen oder Gespräche mit Freunden am Kamin, ob Sie gerne Shoppen gehen oder Gedichte lesen, das tut nichts zur Sache. Dass aber gute Gemeinschaft immer ein Bild der Liebe Gottes ist, das berührt mich tief. Es macht deutlich, dass es nicht egal ist, ob es mich gibt und wie ich mein Leben an andere verschenke. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagt Martin Buber. Recht hat er.


(Morgenandacht am 18.8.2021 auf WDR 3+5)

Dienstag, 17. August 2021

Gesicht zeigen

Gesicht zeigen, das war in den letzten anderthalb Jahren nicht leicht. Bei fast allen Gelegenheiten liefen Menschen mit Masken herum. Mit selbstgenähten Alltagsmasken, mit FFP-2 oder OP. Ich war erst seit hundert Tagen Pfarrer in meinen beiden neuen Pfarreien, da fing das mit den Masken an. So konnte ich die Menschen nur schwer kennenlernen. Denn neben dem Namen brauche ich auch immer das Gesicht, sonst kann ich mir die Menschen nicht merken. Nur die Augen und die Stimme, der Gang und der Klang des Namens, das bleibt alles irgendwie unvollständig.

 

Ganz besonders schwer war für mich die Predigt. Ich spreche frei und schaue dabei in die Gesichter der Menschen. Normalerweise merke ich, ob sie innerlich mitgehen, ob sie ernst bleiben oder ein kleines Lächeln auf den Lippen haben, ob sie eine ironische Bemerkung verstehen oder mein Wort an ihnen vorbeigeht. Dann kann ich meine Worte spontan anpassen, damit sie auch ankommen. Dann kann ich einen Aspekt hinzufügen oder weglassen, je nachdem. Aber jetzt predige ich in Gesichter, die Masken tragen, und von denen ich nur anhand der Augen ahnen kann, was hinter der Stirn vor sich geht. Eine wirkliche Herausforderung, ich fühle mich ziemlich allein mit meinem Wort ohne den Blick der anderen.

 

Die Bibel erzählt, wie Moses die Zehn Gebote empfängt. Das Ganze wird verortet auf der Sinai-Halbinsel, auf dem Gottesberg Horeb. Er kommt ein erstes Mal mit den Zehn Geboten vom Gottesberg herunter. Das Volk hat aber nicht auf ihn gewartet, sondern ein Goldenes Kalb gegossen, das sie bereits anbeten. Moses ist entsetzt und wirft die Tafeln entzwei. Als er die Gesetzesstafeln ein zweites Mal empfängt, ist einiges anders. Das Volk hat nun auf ihn gewartet, es ist gespannt auf den Bund mit Gott. Das Gesicht des Moses strahlt, es ist kaum auszuhalten. Deshalb muss er sein Gesicht verhüllen (Ex 34,29-35). Im Kontakt mit Gott und den Menschen hat Moses eine ganz besondere Ausstrahlung.

 

Auch im Leben Jesu gibt es so ein Leuchten. Gleich drei Evangelisten erzählen im Neuen Testament, wie Jesus verklärt wird. Er nimmt drei seiner besten Freunde mit zu einem Bergerlebnis der besonderen Art. Ein Gipfeltreffen, das auf dem Berg Tabor in Israel verortet wird. Moses und Elias erscheinen, die Vertreter von Gesetz und Propheten. Plötzlich leuchtet das Gesicht Jesu, und seine Kleider sind weiß wie Schnee. Im Kontakt mit Gott und den Menschen gewinnt Jesus eine Ausstrahlung, die auf Ostern hinweist, auf das große Licht am Ende des Tunnels, auf das Leben nach dem Tod.

 

Für dieses Leben, also für die Ewigkeit, gibt es nur Bilder und Metaphern. Kein Mensch kann wissen, wie es einmal bei Gott sein wird. Wir können nur hoffen und zuversichtlich sein. Aber die Bilder haben es in sich. Menschen mit so genannten Nahtoderfahrungen sprechen häufig von einem großen Licht, das sie gesehen haben. Eine „glückselige Schau“ nennt der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin das Leben bei Gott: visio beatifica. Und in den Gebeten der Kirche ist immer wieder davon die Rede, dass wir Gott sehen werden „von Angesicht zu Angesicht“. Also so, wie er wirklich ist, auf Augenhöhe.

 

Ich wünsche uns allen, dass wir bald wieder Gesicht zeigen. Einander nicht nur die Stirn bieten, sondern uns wirklich sehen lassen können. Leben von Angesicht zu Angesicht, schon jetzt. Die Masken werden wohl nicht so schnell und nicht überall verschwinden, und sie haben ja auch etwas Gutes. Aber ganz und gar angesehen fühlen, wahrgenommen, mit allen Feinheiten der Mimik, mit einem Lächeln und mit Ausstrahlung, das wünsche ich mir.

 

Schauen Sie heute jemanden liebevoll an. Ich bin sicher: Auch Sie können sich sehen lassen. Und wenn Sie in den Spiegel schauen, dann sehen Sie einen Menschen, den Gott kennt und liebt – von Angesicht zu Angesicht.


(Morgenandacht in WDR 3+5 am 17.8.2021)

Händedruck

Was haben Sie vermisst – in den letzten anderthalb Jahren während der Corona-Pandemie? Ich habe manches vermisst, und mir hat einiges richtig gefehlt. Dabei habe ich gemerkt: Erst die Sehnsucht macht die Dinge klar. Was ich sehnlich vermisst habe, hatte offenbar einen Wert in sich. Und was mir gefehlt hat, bekam im Lauf der Zeit eine neue Bedeutung. Über die Dinge, die ich während der Corona-Pandemie vermisst habe, möchte ich zu dieser Uhrzeit in dieser Woche mit Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, nachdenken. Es sind der Händedruck, die Gesichter, Begegnungen, das Singen und das Mahlhalten. Und auch das, was ich nicht vermisst habe, möchte ich mit Ihnen teilen. Weil es mich selbst überrascht hat.

 

Zuerst der Händedruck. Menschen müssen Abstand halten, meistens anderthalb Meter. Im Supermarkt bekommt jeder einen eigenen Einkaufswagen, in der Kirche haben wir Plätze gekennzeichnet. Immer schön auf Abstand, Begrüßung nur per Augenkontakt. Ich habe den Händedruck vermisst, sogar sehr. Und dabei kam er mir vorher sogar reichlich inflationär vor. Zur Begrüßung und Verabschiedung von Gesprächspartnern, aber auch von ganzen Gruppen. Nach manchen Gottesdiensten hatte ich als Pfarrer regelrecht Schmerzen in der rechten Hand vom vielen Händeschütteln. 

 

Der Verzicht darauf hatte auch seine Vorteile. Keine einzige kleine Erkältung hatte ich in den letzten anderthalb Jahren. Es kamen einfach weniger Keime an. Keine Corona- und keine anderen Viren, Gott sei Dank. Aber dennoch: Auch ich bin wegen des fehlenden Händedrucks nicht mehr so offen auf andere zugegangen wie sonst. Ich habe andere weniger wahrgenommen, sie weniger freundlich angeschaut. Der Händedruck kommt aus der Frühzeit der Menschen. Er macht deutlich: Ich habe keine Waffe, ich komme im Frieden. Und beim Abschließen von Verträgen galt allein der Handschlag. Abgemacht, Hand drauf, fertig. Das Wort gilt, es wird mit der Hand besiegelt.

 

Das Markusevangelium erzählt, wie Jesus einen Mann heilt, der eine verdorrte Hand hatte (Mk 3,1-6). Es ist Sabbat, jede Berufstätigkeit ist verboten, auch diejenige eines Messias, der heilen kann. Deshalb achtet man genau auf ihn, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus sieht die Leute an, „voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz“, und sagt zu dem Mann: „Stell dich in die Mitte!“ Und: „Streck deine Hand aus!“ Der Mann wird geheilt, er kann seine Hand gebrauchen. Danach fassen die Pharisäer und das religiöse Establishment den Beschluss, Jesus umzubringen.

 

Es ist also nicht ungefährlich, Menschen handlungsfähig zu machen. Ja, handlungsfähig im wahrsten Sinne des Wortes! Mit meinen Händen kann ich handeln, auch wenn ich weder Kaufmann noch Handwerker bin. Meine Hände sind mein Kontakt zur Welt. Zu meinen eigenen Händen habe ich eine ganz besondere Beziehung, denn aufs tägliche Klavierspielen möchte ich nie und nimmer verzichten. Deshalb halte ich meine Hand von jeder Säge fern und hüte meine Finger wie meinen Augapfel. 

 

Immer wieder legt Jesus Menschen die Hände auf, um sie zu segnen. So, als würde die Liebe Gottes durch die Handflächen fließen. Handauflegen, da steckt eine große Ermutigung drin. Aber auch das ist mir in letzter Zeit abhandengekommen. Man bleibt auf Abstand, sicher ist sicher. Und dabei liegt in den Händen der Segen Gottes, wenn sie offen sind und zärtlich. Schauen Sie heute einmal Ihre Hände an, dankbar und ehrfürchtig. Und sehen Sie, was alles auf ihnen liegt und in ihnen steckt!

 

Ich wünsche auch Ihnen die Sehnsucht nach einem Händedruck, einem ganz echten und wahrhaftigen. Und dass wir alle merken, dass man Fäuste nicht falten kann zum Gebet. 


(Morgenandacht in WDR 3+5 am 16.8.2021)

Dienstag, 5. Januar 2021

Die Synodale Sackgasse

„Es soll etwas geschehen, aber es darf nichts passieren“, lautet das geheime Motto des Synodalen Wegs. Dieser Weg wird wohl wie alle Diözesanforen und Dialogprozesse in einer römischen Sackgasse enden: „Schön, dass wir drüber gesprochen haben, wir hatten eine geistliche Atmosphäre“ – und wie die Floskeln nach dem Scheitern eines solchen Prozesses auch immer heißen mögen. Man will, gut ignatianisch, die Meinung des anderen retten, aber man tut dies meistens so lange, bis man selbst keine Meinung mehr hat. Es geht am Ende um nichts, es bleibt alles beim Alten, den Rest erledigt Rom. So bleiben alle Foren und Synoden aufwendige Sedativa, die nur dazu dienen, aufmüpfige Christinnen und Christen für eine gewisse Zeit ruhigzustellen. 

 

Der Anlass zum Synodalen Weg war die so genannte MHG-Studie. Diese hatte offenbart, dass beim sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche nicht nur persönliche Schuld, sondern systemische Ursachen eine Rolle spielen, allen voran die klerikalen Machtstrukturen. Was nicht ausdrücklich genannt wird, aber jedem Insider bekannt ist: Der Kindesmissbrauch gehört zu den Kollateralschäden der Frauenfeindlichkeit und des daraus resultierenden Pflichtzölibats, denn dieser führt individuell zu Verdrängung und strukturell zu fromm getarnten Seilschaften; er macht das klerikale System für unreife Persönlichkeiten geradezu attraktiv. 


Der Wirbel um den Kölner Kardinal, um das nicht veröffentliche Gutachten, den Maulkorb für die Studierendengemeinde und die Vertuschungsvorwürfe zeigt einmal mehr, dass auf mancher Kathedra hochgradig unreife Personen sitzen, die nur durch Anpassung in hohe Leitungsämter gekommen sind. Sie tun nach oben gehorsam, regieren nach unten autoritär und wirken dabei selbstgerecht und versponnen. Dass gerade sie jede Synodalität ausbremsen, dient allein ihrem Machterhalt. Ihre Freunde in Rom werden schon dafür sorgen, dass jeder Reformversuch scheitern wird. 

 

Zur gebotenen Entsakralisierung des Weiheamtes gehört auch, dass ein Bischof zurücktreten muss, wenn das Vertrauen in ihn zerstört ist. Ansonsten haben wir bald zu viele Hirten, die nur sich selber weiden (Ezechiel 34,2) und denen die Herde davonläuft.


Der Artikel ist am 5. Januar 2021 als Gastkommentar in "Kirche+Leben" erschienen.

Montag, 4. Januar 2021

Weihnachten im Lockdown

Mit Weihnachtsromantik konnte ich noch nie etwas anfangen, und das hat seinen Grund. Die biblischen Erzählungen über die Kindheit Jesu sind theologische Legenden, sie konstruieren den Anfang seines Lebensweges aus der Perspektive von Ostern und verwenden dabei Motive aus dem Alten Testament. Wahr daran ist: Jesus kommt von Gott! Christen aber warten gar nicht aufs Christkind, sondern sie erwarten Christus, der sie herausfordert zur Nachfolge. Es ist bedauerlich, dass Christen die Legenden so ausgiebig feiern, während sie die Bergpredigt ignorieren. 

 

Dennoch konnte ich die Weihnachtsromantik stets akzeptieren. Sie ist immerhin Ausdruck der Sehnsucht nach einer heilen Welt. Mag sie psychologisch eine kollektive Regression sein, die nach dem Kindchenschema funktioniert, so hat sie doch eine große Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Auch religiös unmusikalische Menschen fühlen sich angerührt und können einige Rituale mitmachen. Das Ganze ist furchtbar nett, aber erschreckend folgenlos, Tradition minus Inhalt gleich Folklore. Solange es ums Christkind geht und nicht um Christus, fehlt dem Christentum die prophetische Kraft, das Potential zum Aufrütteln und Infragestellen.

 

In diesem Jahr war alles anders. Eine große Zahl von Extra-Gottesdiensten musste kurzerhand wieder abgesagt werden. Die hohen Infektionszahlen ließen keine Veranstaltungen zu, bei denen die Abstands- und Hygieneregeln nicht mit letzter Sicherheit einzuhalten waren. Die evangelische Kirche hatte frühzeitig alles storniert, die katholische Nachbargemeinde zog kurzerhand nach. In meinen beiden Pfarreien blieben nur die Gottesdienste übrig, zu denen man sich langfristig anmelden musste. Dafür gab es eine ganze Menge von digitalen Angeboten, vom täglichen Adventskalender bis zu live gestreamten Gottesdiensten im Stundentakt. Die Kirche war präsent, wenn auch nicht als Gemeinde, sondern als Event.

 

Der Andrang bei den verbliebenen Präsenzgottesdiensten war überschaubar. Viele, die sich angemeldet und einen der wenigen Plätze ergattert hatten, blieben aus Angst vor Ansteckung weg. Und wohl auch aus vorauseilendem Kummer über das Gesangsverbot und die dadurch abgekühlten Weihnachtsgefühle. Die alternativen Angebote wurden jedoch gut angenommen, von der online bereitgestellten Hausandacht bis zum Video-Gottesdienst. Ganz ehrlich: Mir hat nichts gefehlt. Vielleicht, weil ich kein Romantiker bin, vielleicht, weil ich Theologe bin, nicht magisch, sondern aufgeklärt. Konkrete Menschen haben mir gefehlt, nicht aber der überfüllte Kirchenraum wie in den Jahren zuvor. Schmerzhaft war das Fernbleiben von vormals engagierten Christen, die sich 2020 enttäuscht von der Kirche abgewandt haben.

 

Im Dunkeln lässt sich heller träumen, erst die Sehnsucht macht die Dinge klar. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es nur die Sehnsucht nach Normalität ist, nach der regressiven Folklore, oder die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden einander die Hand reichen. Das Christentum ist kein Beruhigungsmittel und keine Bühne für frommen Zauber, sondern eine Herausforderung. Gott geht weder auf Abstand noch in den Lockdown. Er ist da, ganz nah, menschlich und auf Augenhöhe.

 

Dieser Artikel ist am 31.12.2020 in der ZEIT-Beilage "Christ und Welt" erschienen.