Dienstag, 10. November 2020

Gedanken zum Volkstrauertag 2020

Am Volkstrauertag erinnern wir uns an die Geschichte, vor allem an die dunklen Kapitel unserer deutschen Geschichte. Schade, dass wir uns in diesem Jahr zur Erinnerung nicht treffen können wegen der Corona-Pandemie. Aber die Erinnerung selbst kann uns jederzeit ins Herz treffen.

 

Vor 81 Jahren begann der Zweite Weltkrieg und brachte unsägliches Leid über Millionen von Menschen. Vor 71 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet: Ein Meilenstein demokratischen Bewusstseins. Vor 31 Jahren fiel die Mauer, die Deutschland in zwei Teile und Europa, ja die ganze Welt in zwei Systeme teilte. 

 

Vor 81 Jahren wurde versucht, die Geschichte Europas, die wesentlich auch die Geschichte des christlichen Glaubens ist, durch eine menschenverachtende Ideologie zu ersetzen. Vor 71 Jahren wurde ein Grundgesetz verabschiedet, dessen geistige Väter und Mütter sich dem christlichen Glauben verpflichtet fühlten. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hatte sie gelehrt, dass ein Neuanfang ein stabiles geistiges Fundament braucht. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantierten kann“, lautet der von Wolfgang Böckenförde formulierte Grundsatz. Die Präambel des Grundgesetztes beginnt mit den Worten: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Vor 31 Jahren fiel die Mauer. Der anhaltende friedliche Protest, die Friedensgebete in den großen Kirchen, der Mut vieler Christinnen und Christen hatte einen ganzen ideologischen Apparat ins Wanken gebracht.

 

Und heute? Mir scheint, dass wir wieder sehr geschichtslos leben; ohne Sinn für den Sinn der Vergangenheit, für ihre Bewältigung auf Zukunft hin. Eine Gesellschaft, die sich an nichts erinnern mag. Wie sonst könnte es sein, dass Populisten an Macht und Einfluss gewinnen? Leute, die aus der Geschichte nichts lernen wollen, ja die sie geradezu ignorieren? In vielen Ländern wird die lang erkämpfte Demokratie über den Haufen geworfen, zu Gunsten von Diktatoren. Gott sei Dank ist das in den Vereinigten Staaten vorerst beendet. Doch wie sieht es aus in anderen vormals demokratischen Staaten? 

 

Vielleicht haben wir uns zu sehr an die Freiheit gewöhnt. Die demokratische Grundordnung ist zum Alltag geworden. Und die Menschenwürde ist häufig viel zu weit weg. Wir halten uns die Probleme vom Leib und machen die Grenzen einfach dicht. Daran ist ganz Europa mitschuldig geworden. Haben wir uns etwa an die Freiheit gewöhnt, weil wir so geschichtslos geworden sind? Wenn man nicht mehr weiß, was die Freiheit kostet, dann weiß man sie auch nicht zu schätzen und nicht zu schützen. Corona-Leugner zum Beispiel schätzen die geschenkte Freiheit gering, stattdessen nehmen sie sich die Freiheit heraus, sich über die Gesundheit anderer Menschen zu stellen und kruden Verschwörungsmythen auf den Leim zu gehen.

 

Der heutige Volkstrauertag darf uns eine Hilfe sein, die Erinnerung nicht aufzugeben. Die größte politische Sünde ist das Vergessen. Wenn wir vergessen und verdrängen, dann werden wir aus der Geschichte nichts lernen. Wenn wir der Opfer der Kriege gedenken, dann dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht Vaterlandsliebe war, sondern Unfreiheit, die sie zu Tode gebracht hat; nicht Heldenmut, sondern Unmenschlichkeit. Niemand ist für irgendein Vaterland gestorben, vielmehr sind alle von Diktatoren ermordet worden, und zwar völlig sinnlos! Das dürfen wir nicht vergessen.

 

Mit Menschen, die sich nicht erinnern, die keine Meinung haben, kein Profil; mit Menschen, die allzu leicht vergessen, was die Freiheit kostet, kann man recht problemlos einen totalitären Staat machen. Deshalb brauchen wir das Gedenken, die Erinnerung. Der Liedermacher Manfred Siebald hat zum Fall der Mauer am 9. November 1989 ein Lied geschrieben, das, so hoffe ich, für sich spricht. Mit einigen Zeilen aus seinem Liedtext möchte ich schließen:

 

Über Nacht kann sich alles ändern, 

alte Lehren melden den Bankrott;

die Gedanken tasten nach Geländern. 

Wohl dem, der einen Halt hat ...

 

Über Nacht rosten blanke Orden, 

und das Lob von gestern wird zum Spott.

Mancher Ruhm ist zur Last geworden. 

Wohl dem, der einen Halt hat ...

 

Über Nacht gehn die kurzen Beine 

langer Lügen plötzlich nicht mehr flott,

und die Wahrheit reißt sich von der Leine. 

Wohl dem, der einen Halt hat ...

 

Über Nacht können Gräber sprechen 

und die Henker schleift man zum Schafott.

Was einst Recht schien, zeigt sich als Verbrechen. 

Wohl dem, der einen Halt hat.

 

Über Nacht können Sockel wanken, 

und die Helden wandern auf den Schrott,

und mit ihnen wandern die Gedanken.

Wohl dem, der einen Halt hat ...

 

In diesem Lied fehlt am Ende jeder Strophe ein Wort. Wohl dem, der einen Halt hat: Gott. Ihn brauchen wir, um unsere Ethik nicht in die Luft zu hängen, und um die Menschenwürde mehr als menschlich zu begründen. Wohl uns, wenn wir unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Zukunft, unsere Werte irgendwo festmachen können. Wohl dem, der einen Halt hat: Gott.