Dienstag, 26. Mai 2020

Der Himmel ist kein Ort

Liebe Schwester Brüder, das heutige Evangelium ist der Beginn des Abschiedsgebets Jesu aus dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums. Es hat mich zu drei Fragen animiert: 
    Wo ist der Himmel?
    Was ist Ewigkeit? und 
    Was ist dann das ewige Leben?

Zur ersten Frage: Wo ist der Himmel? Wir wissen alle, er ist nicht oben und nicht unten nicht rechts und nicht links. Sondern jenseits des erfahrbaren Raums. Die Engländer und Amerikaner haben es leichter. Sie sagen „sky“ für den Ort, wo die Wolken und Flugzeuge fliegen, und „heaven“ für den „Ort“ Gottes. Aber auch das führt nicht weiter. Hat denn Gott einen Ort? Kann man „heaven“ überhaupt sagen? Gott scheint irgendwie überall und nirgends zu sein. „Gott ist überall zu orten, aber nirgends zu lokalisieren“, sagt der evangelische Theologe Heinz Zahrnt. 

Gott ist überall zu orten, aber nirgends zu lokalisieren: Man kann ihn überall erfahren, aber man kann nicht sagen: „Jetzt hab ich ihn“. Wo soll der Himmel auch sein? Wir können nur denken in Zeit und Raum. So ist unser Gehirn gemacht. Deshalb brauchen wir, um überhaupt etwas über Gott und seinen Himmel zu sagen, Bilder aus Zeit und Raum. Nur Bilder! Und wissen doch, dass Gott jenseits von Zeit und Raum ist. Er ist ganz gegenwärtig – jetzt und hier.  

Wir wissen – und manche sind immer noch traurig darüber –, die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Der Urknall war vor 13,7 Milliarden Jahren. Seitdem driftet der Raum auseinander. Unsere Sonne ist ein Stern der dritten Generation. Also auch schon zusammengesetzt aus dem, was vorher mal explodiert war. Sie ist keine fünf Milliarden Jahre alt. Unser Sonnensystem – die Sonne und die Planeten – befindet sich am Rande der Milchstraße in einem Seitenwirbel – also nicht einmal in der Mitte – und driftet auch auseinander. Unendliche Weiten. Und wir? Die Atome und Moleküle, aus denen wir zusammengesetzt sind, sind letzten Endes Sternenstaub, der sich irgendwo mal zusammengetan hat vor unendlicher Zeit. Die Erde hat zwei Milliarden Jahre gebraucht bis zur ersten Aminosäure. Und vom Einzeller bis zum Menschen waren es bloß 900 Millionen Jahre. Als das Leben einmal da war, ging es scheinbar ganz schnell. 

Wo soll bei diesen unendlichen Räumen der Himmel sein? Gott ist kein Gegenstand dieser Welt. Wir können nicht über ihn sprechen wie über einen Gegenstand. Und wenn er nur ein Begriff des Denkens wäre, wäre er eben ein Begriff – und nicht Gott. Er ist über alles hinaus über allem und in allem. Wir können ihn nicht denken mit unserem Gehirn. 

Ich kannte einen Professor für theoretische Physik am Max-Planck-Institut in Göttingen. Ein frommer Professor, der jeden Tag die heilige Messe besuchte. Solche Physiker gibt es auch! Er erklärte mir das so: „Stell dir vor, du kannst ein Wasserstoffatom vergrößern, bis der Atomkern so groß ist wie eine Apfelsine. Dann ist das Elektron so groß wie ein Stecknadelkopf und saust in tausend Kilometern Entfernung mit zwei Millionen Stundenkilometern um die Apfelsine herum. Und wenn du alle Atomkerne der Erde zusammendrücken könntest, bis sie einander berührten, dann wäre die ganze Erde noch so groß wie ein Fußball, aber so schwer wie die Erde. Und die ganze Menschheit kaum so groß wie ein Zuckerstückchen. Unvorstellbar!“ Und dann sagte er: „Und das meiste davon ist eben nichts anderes als Raum und Bewegung.“ Raum und Bewegung! Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Und das ist für mich Geist. Das ist für mich Gott in allem und über alles hinaus.“ 
Die Mystiker haben es immer gewusst. Meister Eckart hat zum Beispiel gesagt: „Gott ist mir näher, als ich mir selber bin.“ Er ist hinter allen Dingen und in jedem Menschen. Und Johannes Scheffler: „Halt an wo läufst du hin, der Himmel ist in dir!“ Wenn du also Gott nicht in dir findest, findest du ihn gar nicht. Nimm ihn war als das große Geheimnis deines Lebens. 
Das Liebe Schwestern und Brüder, ist auch mein Glaube. Es ist alles Geist. Und wir sind schon mittendrin. Nur wir nehmen es nicht wahr – oder nur sehr selten. 

Die zweite Frage: Was ist Ewigkeit? Izaak Newton meinte noch, die Zeit sei eine unumstößliche physikalische Größe, sie sei überall im Weltall gleich. Albert Einstein hat ausgerechnet, dass die Zeit relativ zum Raum ist. Je nachdem, wo ich bin, erlebe ich die Zeit anders. Wenn wir zum Beispiel in die Sterne gucken, dann schauen wir bereits in unsere Vergangenheit. Weil das Licht so lange braucht. Und weil die Schwerkraft den Raum krümmt, ist die Zeit überall anders. Gott ist jenseits der Zeit, wenn wir sagen, dass er ewig ist. Wäre die Ewigkeit bloß eine Zeit, die nicht aufhört, die einfach lange andauert, dann wäre sie ziemlich langweilig. Und wir müssten im Himmel ab und zu Urlaub von Gott machen, weil wir eine solch maßlose Langeweile nicht aushalten würden. Immer dasselbe! Die Ewigkeit muss wie ein Augenblick sein. Eine Gegenwart jenseits der Zeit. Gott ist reine Gegenwart: pure Präsenz!

So ist das ewige Leben nicht ein Ort und nicht eine Zeit, sondern eine Begegnung. Kein Ort, an dem wir einmal sein werden, und keine Zeit, die nicht zu Ende geht, sondern eine Begegnung. Das ewige Leben ist Gott selbst. Und so sagt Jesus im heutigen Evangelium – in seinem Abschiedsgebet: „Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den einzigen wahren Gott, erkennen, und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ Das ist der erste Teil des hohepriesterlichen Gebets Jesu. Zuvor gab es drei Kapitel Abschiedsreden an seine Jünger im Abendmahlsaal. Und jetzt betet Jesus zum Vater, er möge ihn verherrlichen. Jesus meint damit seinen Kreuzestod, durch den Gott ihn verherrlicht und zu sich aufnimmt. Dabei betet er auch für seine Jünger, bei denen er bleiben wird auf eine neue, geistige Weise. „Das ist das ewige Leben, dass sie dich, den einzigen wahren Gott, erkennen, und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ 

Der Himmel, die Ewigkeit, ist also ein Jemand und kein Etwas. Ich habe das schon einmal erfahren dürfen in der Meditation – im kontemplativen Gebet. Wir sagen ja normalerweise, es gibt drei Zeitformen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit und die Zukunft sind reine Zeitformen. Aber die Gegenwart ist eine Zeitform, die zugleich auch einen Raum bedeutet. Sie kennen das: Jemand ist ganz gegenwärtig. Dann sagen wir: „Der ist so präsent, der füllt den ganzen Raum.“ „Ich bin ganz gegenwärtig“, heißt: „Ich bin jetzt und hier. Ich bin in der Gegenwart, an diesem Ort, in dieser Zeit.“ Und selbst Einstein sagt, dass am Ende aller Physik Raum und Zeit wieder zusammenfallen, alle Energie wird wieder auf Null gesetzt. Da ist reine Gegenwart. 

Gott also ist immer hier und jetzt. Und wenn ich ganz gegenwärtig bin, dann spüre ich ihn. Er ist pure Präsenz. Er geht mit uns durch die Zeit und hält uns eine Zukunft bereit, die wir etwas naiv den Himmel nennen, aber die eigentlich darin besteht, dass wir in ihm sind. Das ewige Leben ist niemand anders als er selbst. Am Ende ist Gott alles in allem. 

Ich durfte einmal einen sterbenden Mann begleiten, der das gut verstanden hatte. Er sagte auf dem Sterbebett zu seiner Frau: „Ich bin in Gott und Gott ist in mir. Und du bist auch in Gott und Gott ist in dir. Und so sind wir beide ganz nah.“ 

(Predigt zum 7. Ostersonntag A - Livestream aus Ahaus St. Mariä Himmelfahrt)