Freitag, 1. Mai 2020

Hemd und Jacke

Willkommen zum Wort zum Wochenende der Münsterland-Zeitung! Ich möchte nichts über Gottesdienste und Abstandsregeln sagen, nichts über Messen und Hygiene beim Kommunionempfang. Das machen unsere Pfarreien derzeit sehr unterschiedlich: In Stadtlohn gibt es mehr Messen, in Vreden dafür sehr viel weniger, in Ahaus und Alstätte-Ottenstein wie sonst auch. Die evangelische Kirche feiert ohne Abendmahl. Das hat alles nichts mit Theologie zu tun, sondern mit Hygiene – und mit Angst. Aber das alles lasse ich jetzt mal außen vor.

Ich möchte heute über etwas anderes sprechen: über Hemd und Jacke. Über das Hemd, das den meisten näher ist als die Jacke. Wir erleben zurzeit: Ein Virus macht kurzatmig und zerstört die Lunge. Daran sterben nicht nur alte Leute oder Menschen mit Vorerkrankungen,
die es auch bei einer Grippe erwischt hätte. Also Menschen, die nicht an, sondern mit Corona sterben. Sondern es betrifft ganz normale Leute „wie du und ich“. Deswegen bin ich so froh, dass wir eine Regierung haben, die sich beraten lässt und nicht bloß herum-„trump“-elt. 

An die Lunge also geht das Virus. Die Lunge ist das Problem.  Ich frage mich: Sind wir nicht alle atemlos geworden? Nicht „atemlos durch die Nacht“, sondern atemlos vom allerletzten Schrei! Wir wollen haben, immer mehr. Und zerstören dafür hemmungslos die Schöpfung. Der Regenwald zum Beispiel, so sagt man, sei die „Lunge“ der Erde. Doch wir zerstören sie. Und damit die Zukunft unserer Kinder.

Was Corona für die Lunge ist, das sind die reichen Länder für die Welt!

Ich spreche vom Klimawandel – wer spricht jetzt noch davon? Nimmt uns die Angst vor dem Virus den Sinn für alles andere? Diese Angst macht atemlos, sie bestimmt alle Aufmerksamkeit. Das Hemd ist uns eben näher als die Jacke: Wenn’s weit weg ist, ist’s wohl nicht so wichtig. Wenn’s nur für alle ist, scheiß egal. Hauptsache: ich, und zwar jetzt! Hauptsache: alles, und zwar sofort!

Das Virus macht der Politik Beine und ermöglicht Milliardenhilfen. Der Mittelstand braucht sie dringend, diese Hilfen, denn der Mittelstand ist die Stütze unserer Wirtschaft. Ehrliche Leute, die nicht „chef“-feln, sondern arbeiten. Diesem Wohlstand verdanken wir unsere Freiheit! Doch was ist mit den Konzernen? Sie verlangen Staatshilfen und steuerfinanzierte Kaufanreize, aber schmeißen dann mit Dividenden und Boni nur so um sich. Die Wirtschaft als ganze stagniert, nur die Rüstungsexporte steigen weiter. Wir profitieren alle von diesem Profit, doch der Preis dafür ist hoch. Rüstung ist eben nicht nachhaltig, sondern tödlich.

Und die Geflüchteten, die sind plötzlich weit weg und sitzen unbeachtet auf Inseln ohne Menschenrechte. Jeden Tag sterben über 20.000 Menschen an Hunger. Die Mitbewohner unserer Erde kriegen wie immer nur das, was wir übriglassen. Wir sollten uns was schämen, Sie und ich! Und einsehen: Unser Lebensstil ist tödlich!

Was Corona für die Lunge ist, das sind viele von uns für die Welt!

Das Virus schränkt Recht und Freiheit ein und fast alle machen mit, sie lassen es sich gefallen. Nur ein wenig knurren sie über die Masken, und dass man im Laden warten muss. Aber alles in allem funktioniert es. Gut so! Wären wir doch immer so vernünftig und nähmen Rücksicht aufeinander. Doch den meisten ist eben das Hemd näher als die Jacke: Sie fangen erst dann an zu denken, wenn es ihnen selber an den Kragen geht.

Wäre der Glaube ansteckend, könnte die Welt dann wieder atmen? Das Virus macht überdeutlich: Alle Menschen müssen sterben. Wir sind alle sterblich, todsicher. Sind wir vielleicht deshalb jetzt so nervös, weil wir das vergessen hatten, vielleicht auch nur verdrängt? Alles dreht sich jetzt um Geld und Leben: das nackte Überleben und die Wirtschaft. Und dabei steht beides nicht im Grundgesetz: nicht der Profit, nicht das gesunde und keimfreie Leben. Sondern die Menschenwürde. Die Freiheit. Und das Recht auf Bildung. Was ist mit der Menschenwürde in den Altenheimen, wo kein Besuch mehr hindarf? In den Kindergärten und Schulen? In den Gaststätten, die reihenweise pleite gehen? In den kleinen Betrieben, die ums Überleben bangen?

Wir müssen alle sterben, und deshalb müssen wir das Leben schützen. Aber bitteschön das Leben aller Menschen, und nicht nur unser eigenes. Denken Sie an die Jacke und das Hemd! Alle Menschen müssen sterben: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hochkommt, sind es achtzig“, heißt es in Psalm neunzig. Ja, so ist das! Und auch ich muss sterben. Aber ich habe eine große Hoffnung. Ich liebe das Leben, aber ich hänge nicht daran, so als gäbe es nichts anderes. Weil ich diese Hoffnung habe. Ich muss nicht alles aus dem Leben herausholen, was womöglich drinsteckt an Jahren und Erlebnis. Ich habe keine Angst, irgendetwas zu verpassen. Deshalb kann ich mein Leben für andere einsetzen.

„Ich bin gelassen im Vorletzten, weil ich geborgen bin im Letzten“, sagt Romano Guardini. Das Wort habe ich mir ins Herz geschrieben: „Ich bin gelassen im Vorletzten, weil ich geborgen bin im Letzten.“ Deshalb will ich nicht nur um mich selber kreisen, nicht um meine Gesundheit, nicht um mein Leben, nicht um meinen Besitz und nicht um meine Angst.

Jesus sagt: „Wer sein Leben festhalten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben einsetzt, der wird es finden.“ Seien Sie deshalb hilfreich, machen Sie irgendwem das Leben leichter, setzen Sie sich für eine gute Sache ein, übernehmen Sie ein Ehrenamt, achten Sie auf die Umwelt. Dann ist viel getan. Mit einem Wort: Bewahren Sie sich nicht für sich selbst! „Denn wer sein Leben festhalten will, wird es verlieren, wer es aber einsetzt, der wird es finden.“

Die Rede ist auf www.muensterlandzeitung.de als Video erschienen. In den Pfarrnachrichten von St. Mariä Himmelfahrt in Ahaus steht das Ganze lyrisch verdichtet:


Hemd und Jacke

Ein Virus macht kurzatmig
und zerstört die Lunge.

Wir wollen haben, stets gehetzt
vom allerletzten Schrei –
und zerstören hemmungslos
die Lunge dieser Erde.

Ein Virus macht der Politik Beine
und ermöglicht Milliardenhilfen.

Wir lassen die Geflüchteten sitzen
auf Inseln ohne Menschenrechte;
die Mitbewohner dieser Erde
kriegen nur, was übrigbleibt.

Ein Virus schränkt Recht und Freiheit ein
und fast alle machen mit.

Wären wir doch immer so vernünftig
und nähmen Rücksicht aufeinander.
Doch den meisten ist das Hemd
näher als die Jacke.

Wäre der Glaube ansteckend,
könnte die Welt dann wieder atmen?

Stefan Jürgens