Mittwoch, 11. März 2020

Von der Magie zur Mystik

Glauben ist kein Zustand, sondern ein Weg. Bleibt ein Mensch auf einer bestimmten, meist frühen religiösen Stufe stehen, spricht man vom Kinderglauben. Wenn ein Kind nicht wächst, wird aus ihm kein kleiner Erwachsener, sondern ein Zwerg. Man sollte den Kinderglauben deshalb nicht romantisieren, als habe eine solche Entwicklungsstufe mit unverdorbenem Vertrauen zu tun, gar mit unverbrauchter und unangezweifelter Gottunmittelbarkeit. Es ist ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Nach meiner Erfahrung gehen menschliche und geistliche Reife Hand in Hand, Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind ein und dasselbe. 

Die religiöse Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenglauben ist der Weg von der Magie zur Mystik. Magie ist dabei die archaische Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt und man nur die richtigen Mittel anwenden muss, um das Göttliche nach eigenem Gutdünken zu beeinflussen. Mystik ist demgegenüber die konsequente Pflege einer persönlichen Gottesbeziehung. Der Mystiker erfährt Gott als ein liebendes, aber auch herausforderndes Du, dem er sich in Freiheit anvertrauen kann. Gott ist geheimnisvoll, aber nicht unheimlich; vor allem ist er eindeutig, nicht ambivalent. 

Kinder- und Erwachsenenglauben lassen sich am ehesten unterscheiden an der Art, wie wir beten. Hier zeigt sich, ob wir magisch oder mystisch sind, ob wir mit unserem Beten Gott verändern oder uns von ihm verändern lassen wollen, ob wir ihn zum Lückenbüßer und Wünscheerfüller machen oder wirklich Gott sein lassen. Im Kinderglauben ist das Gebet eine magische Beschwörung, durch die man Gott herbeirufen will. Im Erwachsenenglauben ist Gott der Ewige und Heilige, der unverfügbar bleibt, jedoch mit all seiner Liebe am Menschen interessiert ist. In der Magie soll Gott das tun, was der Mensch will, im Glauben darf der Mensch danach fragen, was Gott will, und es mit seiner Hilfe dann auch tun. Entsprechend kann man auch die Sakramente der Kirche als Heil- und Wundermittel magisch missverstehen oder sie als beziehungsstiftende Realsymbole begreifen, die erinnernd vergegenwärtigen, was Gott uns längst geschenkt hat.

Kinder nehmen die Bibel wörtlich, Erwachsene nehmen sie ernst. Entsprechend verliert bei Erwachsenen, die sich religiös nicht entwickeln konnten, die Bibel oftmals ihre zauberhafte Plausibilität, sobald sie mit den Erkenntnissen der modernen Exegese konfrontiert werden. Wer im Glauben gereift ist, wird sich nicht mehr am Buchstaben festhalten, sondern akzeptieren, dass die Bibel subjektive Erfahrungen enthält, die durch die Gemeinschaft der Glaubenden intersubjektiv geworden sind und durch deren Tradition Gewicht bekommen haben. 

Ursachen für den Kinderglauben

Kinder lernen durch Nachahmung, Erwachsene durch Reflexion. Wer als Kind keine erwachsenen Glaubensvorbilder hatte, wird es schwerer haben, selbst im Glauben erwachsen zu werden. Wer über Omas Schutzengelgebete nicht hinausgekommen ist, wird Gott für eine Schutzmacht halten, die dafür zuständig ist, sicher über die Straße zu kommen. Wer Gott als einen Kontrolleur oder Schnüffler erfahren hat, der als Erziehungsmittel missbraucht worden ist; als einen Gott, der durch Gebote und Verbote regiert und mit Lohn und Strafe agiert, wird es schwerer haben, an die Liebe Gottes zu glauben. Wer als Kind nur moralisierende Predigten gehört hat, ja wer nur das vormoderne, theologieferne und stets ausweichende Geschwafel der meisten Kirchenmänner kennt, wird keine Spiritualität entwickeln, die über das Gemüt hinausgeht und auch intellektuell anspricht. Wenn der Glaube zu klein ist, wächst man heraus; er muss zu groß sein, dann kann man hineinwachsen. 

Die Ursünde des Menschen ist: sein wollen wie Gott. Die Ursünde der Kirche ist der Klerikalismus, denn hier maßen sich Menschen im Grunde genommen dasselbe an, indem sie zwar nicht Gott, aber doch zumindest seine Stellvertreter sein wollen und dabei so tun, als würden sie – und nur sie – seinen Willen genau kennen. Klerikal ist dabei nicht eine bestimmte Theologie oder Kleidung, sondern ein archaisch-magisches Machtgefälle. Wo eine Gemeinde oder eine Diözese ihren Leiter als skurrilen Schamanen erlebt und sogar akzeptiert (Klerikalismus von unten) und wo ein Geweihter sich selbst von den so genannten Laien abgrenzen muss, um seine wankende Identität zu stärken oder gar die eigene Unsicherheit zu verstecken (Klerikalismus von oben), entstehen Misstrauen und Angst. Die Christen an der Basis schauen noch viel zu sehr nach oben, man möchte möglichst mit dem „Chef“ sprechen, also mit dem jeweils verfügbaren ranghöchsten Kleriker. Der Grund ist wieder die Infantilität des Gottesvolkes: Nur unmündige Kinder brauchen Väter, erwachsene Christen haben Geschwister! 

Als am schädlichsten für die Entwicklung eines erwachsenen Glaubens erweist sich die typisch klerikale Koalition aus Angst und Macht. Wer sich nur religiösen Autoritäten unterzuordnen gelernt hat, wird keine eigene christliche Identität ausbilden, sondern infantil bleiben. Wer sich zeitlebens selbsternannten geistlichen Vätern oder einer übermächtigen Mutter Kirche unterzuordnen hatte, wird niemals ein erwachsener Christ oder eine erwachsene Christin werden. So hat man vielen Christen nur ein Autoritätsgewissen zugestanden, das dem Lehramt zu gehorchen hat. Das Gewissen als oberste Instanz wurde nur verbal propagiert, nicht jedoch beherzigt, besonders im Bereich der typisch katholischen kollektiven Sexualneurose, deren detailverliebte Normen häufig nur ein Spiegel der Phantasie ihrer Urheber, nicht aber hilfreich sind. 

Wie man im Glauben erwachsen wird

Wie wird man im Glauben erwachsen? Bei den meisten Menschen ist dies ein fließender Übergang. Ihre ganz natürliche kindliche Religiosität entwickelt sich zum erwachsenen Glauben, indem sie den ererbten Glauben zunächst rituell mitvollziehen und dann immer mehr durchdringen, verstehen und auch bejahen können. Archaische Vorstellungen schleißen sich aus, Erfahrungen mit dem Gebet und dem Gottesdienst der Gemeinde eröffnen eine persönliche Mystik, einen personalen Glauben, eine eigene Gottesbeziehung. 

Viele Menschen verlieren ihre kindliche Religiosität abrupt. Dies geschieht meistens im Jugendalter, wenn auch viele andere Wertesysteme losgelassen werden. Die religiöse Sehnsucht ruht dann für eine Zeit, man wendet sich ganz innerweltlichen Erlebnisräumen zu und lässt die Kinderschuhe des Glaubens irgendwo stehen, ohne sie zu vermissen. Wessen religiöse Entwicklung im Jugendalter endet, ohne erwachsen zu werden, wird sich zeitlebens an kirchlichen Autoritäten abarbeiten und dabei möglicherweise Jesus Christus gar nicht kennenlernen, er wird Rebellion und Nachfolge pubertär verwechseln.

Wenige Menschen haben das Glück, eine wirkliche Bekehrung zu erleben. Diese entspricht dann einer ganz plötzlichen Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenglauben. Bekehrung heißt im Neuen Testament Metanoia, was eher ein Umdenken, ein Größerdenken bedeutet als eine bloß moralische Kehrtwendung; sie wird häufig als Befreiung erlebt, da man sämtliche kindlichen Gewissheiten und Geborgenheiten hinter sich lässt und gerade dadurch zu einer persönlichen, jetzt entmagisierten Gottesbeziehung findet. Man verzichtet auf die „Tröstungen der Religion“ (Simone Weil) und stellt sich stattdessen den Herausforderungen des Lebens. 

Pastorale Wegmarken

Kinder brauchen Eltern, die im Glauben erwachsen sind. Denn die Kinder möchten über den Glauben der Eltern staunen und ihn als nachahmenswert erfahren. Jugendliche brauchen Eltern, deren Glaubenspraxis sie kritisch hinterfragen können und die ihren Glauben gerade deshalb treu durchhalten. Wenn Eltern in ihrer eigenen Glaubenstreue nachlassen, sobald ihre jugendlich gewordenen Kinder keine Lust mehr haben, werden ihre Religiosität und ihr Wertesystem bald als bloßes Erziehungsmittel entlarvt und für unglaubwürdig gehalten. Kinder und Jugendliche brauchen Erzieherinnen, Lehrer und Katecheten, die nicht nur ihr fachliches und pädagogisches Handwerk verstehen, sondern wahrhaft Zeugen sind. Man kann auch ohne Missionsabsichten Zeuge sein, indem man zu dem steht, wer man ist und was man tut. Zeugnis geben ist besser als zu überzeugen oder gar zu überreden. Christen brauchen Seelsorger (m/w/d), die der Kirche gegenüber kritisch-loyal sind, die im Gebet bleiben, in der Bibel und in der Welt zu Hause sind und geistlichen Tiefgang haben, und deren Spiritualität am konkreten Lebenswandel erkennbar ist. Nur im Kontakt mit solchen Seelsorgern können Menschen reifen, die auf der Suche nach Gott sind, andernfalls werden sie nur Scheinautoritäten erleben, die etwas behaupten, von dem sie nichts verstehen. 

Mein Eindruck ist, dass die katholische Kirche gerade deshalb so reformunfähig ist, weil viele ihrer leitenden Persönlichkeiten ängstlich statt mutig, müde statt vital, kindlich statt erwachsen sind, mehr Kirchenmuttersöhnchen als Männer des Glaubens. Solange Frauen von Weiheämtern ausgeschlossen sind, werden die leitenden Männer allein aufgrund ihrer wagenburgartigen Selbstbezüglichkeit nicht reif. Die aktuelle Reformdebatte zeigt, dass die Kirche als Ganze erwachsen werden muss.

(Der Artikel erschien am 10.3.2020 auf "katholisch.de" und ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags in der Zeitschrift COMMUNIO)