Sonntag, 5. April 2020

Kleine Gebetsschule XX: Verspüren und Verkosten

Die eigentliche Schriftmeditation habe ich bei Ignatius von Loyola gelernt. Ignatius, als Soldat im Krieg verwundet, liegt auf seinem Krankenlager und liest das Leben Jesu und der Heiligen, sozusagen das Evangelium und die lebendigen Kommentare dazu. Er notiert genau, was ihn besonders anspricht, und bemüht sich um eine existentielle Auslegung der Bibel. 

Später versucht er in seinen Exerzitien, sich dem biblischen Text Schritt für Schritt zu nähern: durch Besinnung (Meditation), Betrachtung (Kontemplation), die Beachtung der geschichtlichen Tatsachen (historia), durch Zusammenfassung der wichtigsten Punkte (sumaria); durch selbstständiges Überdenken (discurriendo) und eigene Schlussfolgerungen (raciocinando), vor allem aber durch das Verkosten der Dinge in der eigenen Vorstellung (sentir) sowie durch das verstandesgemäße Eindringen (raciociación propria). An wissenschaftlicher Exegese liegt ihm weniger als an existentieller; nur sie führt in die Gottesbeziehung hinein, „denn nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren (sentir) und Verkosten (gustar) der Dinge von innen her (internamente)“, schreibt er in seinem Exerzitienbüchlein. 

Diese etwas holprige Aufzählung macht die vielen Dimensionen deutlich, die Heilige Schrift zu erfassen. Die kognitiven Kräfte werden hier nicht abgelehnt, aber die affektiven stehen im Vordergrund: In der Betrachtung (Kontemplation) gehe ich die biblische Geschichte durch, überdenke sie, suche Gesichtspunkte, die ein neues Licht auf die Stelle werfen; ich lasse mich auf innere Vorgänge ein, auf das Verkosten und Verspüren, von dem Ignatius spricht. Dabei schaue ich mir die Szene genau an, gehe die Landschaft, die Personen, die Handlung mit allen meinen Sinnen durch: Hören, Sehen, Riechen, Tasten und Schmecken. 

Die Bibel ist nicht bloß Literatur, sondern das Medium und der Ort der Umgestaltung des eigenen Lebens im Blick auf das Leben Jesu, wobei alle Kräfte des Menschen, alle seine Tiefenschichten, sein Denken, Wollen, Fühlen, Wirken, seine Phantasie usw. sich ausleben sollen, die mithelfen können, die Existenz des Menschen im Licht der Heiligen Schrift zu verwandeln. Das „hermeneutische Prinzip“, der Schlüssel zum Verständnis der Heiligen Schrift ist ja nicht, was ich weiß, wer ich bin, was ich will oder was andere fordern oder denken, sondern allein der auferstandene Christus, der im Wort der Schrift zu mir spricht, und zwar hier und jetzt. Dabei bleibt das Handeln Gottes, das Ergriffenwerden durch Jesus Christus, maßgeblich vor aller menschlichen Anstrengung. Der Mensch kann aber daran mitwirken – und die Bibel ist der beste Einstieg in eine gelingende Gottes- und Christusbeziehung. 

Die Begegnung mit dem Gott Jesu Christi soll immer weiter vertieft werden: Verstehen ist mehr als Denken, und wirkliche Empathie, von Herz zu Herz, ist mehr als Verstehen. „Psychographisch“ nennt man deshalb auch diese Weise des Umgangs mit der Heiligen Schrift: Man stellt sich alles genau vor und hält seine eigene Existenz ganz nahe an die Schrift heran, stellt sich mit seinem eigenen Leben gedanklich und emotional in die Szene hinein. Dabei kann ich auch fragen, ob sich vielleicht ein Wort aus dem Text „heute an mir erfüllt hat“ (vgl. Lukas 4,21), also heute lebensrelevant geworden ist. Oder man fragt sich, welches Wort heute nicht nur zu bedenken, zu betrachten ist, um sich dadurch ermutigt zu fühlen, sondern auch, welches Wort jetzt zu tun ist: „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst“ (Jakobusbrief 1,22). 

Und wie geht das praktisch? Ich versuche, den Raum so zu gestalten, dass ich darin verweilen kann, ohne abgelenkt zu werden. Ich nehme mir genügend Zeit, um nicht gehetzt zu sein; allerdings lege ich auch den zeitlichen Endpunkt meiner Schriftbetrachtung fest. Ich bete zum Heiligen Geist, dass Er durch das Wort der Schrift in mein Leben hinein sprechen möge. Und dann nehme ich die Bibel, stelle mir alles genau vor und warte geduldig, denn „der Glaube kommt vom Hören“ (Römer 10,17). Nach der Betrachtung verweile ich kurz in meiner Erfahrung, um sie ins Leben mitnehmen zu können. Vielleicht formuliere ich daraus ein kurzes Gebet, eine Bitte, eine Hoffnung. Und schließe meine Gebetszeit ab wie meine kleine persönliche Liturgie (Vaterunser, Segen, Geste). 

Ein solches Schriftgebet ist der Versuch, so lange hinzuspüren, bis man spürt, dass die Kraft des Glaubens und des Vertrauens in einem wächst. Damit wird eine Tür aufgetan, durch die Gott selbst wirken kann. Das gläubige Vertrauen ist die Tür, durch die er eintritt und Wohnung nimmt in mir. Dann ist Spiritualität leben in Gottes Gegenwart – nicht mehr und nicht weniger.

Der betende Umgang mit der Bibel – Schriftbetrachtung in sechs Schritten
  1. Sich vorbereiten: Ich lasse alles hinter mir, um ganz da zu sein. Ich spreche ein Gebet.
  2. Lesen, Bitten: Ich lese den Text häufiger und bitte Gott, mir den Sinn zu zeigen.
  3. Suchen, Entdecken: Ich suche danach, was mich innerlich in Bewegung bringt.
  4. Verweilen: Ich bleibe bei dem, was mich bewegt, und verkoste es bis zuletzt.
  5. Beenden: Ich setze einen deutlichen Schlusspunkt: Gebet, Gebetsformel, Verneigung.
  6. Reflexion: Ich notiere, was sich in mir getan hat, um später darauf zurückzugreifen.

Bis morgen!
Stefan Jürgens