Sonntag, 5. April 2020

Kleine Gebetsschule XXI: Den Tag gestalten - Stundengebet

Den Tag geistlich einteilen, beten und arbeiten im Wechsel, das geht am besten mit festen Regeln. Das Stundengebet der Kirche ist ein Regelwerk, mit dem man den Alltag besteht, ohne dabei Gott zu vergessen: Ich mache mir bewusst, dass ich Mensch bin – und eben nicht Arbeitstier; ich bin geschaffen, um zu leben und zu lieben, und nicht, um mich selbst zu produzieren. Ich leide nicht unter Arbeitswut, sondern meine Arbeit ist eine Antwort auf Gottes Schöpferliebe. Und deshalb braucht meine Arbeit eine kreative, spirituelle Unterbrechung; deshalb braucht mein Tag Zeiten, in denen es regelmäßig, ohne Rücksichtnahme auf Lust und Laune, um mich ganz persönlich, um Gott, um die Menschheit, um die Kirche geht.

Dabei hat das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) einiges wieder ins Lot gebracht: Die Einengung auf die Feier der heiligen Messe wurde zugunsten anderer Gottesdienstformen überwunden, und das Stundengebet galt nicht mehr als eine auf Kleriker und Nonnen beschränkte Pflichtlektüre. Stundengebet ist Gemeinschaftsgebet, es gehört in jede christliche Gemeinde. Auch die Andachten, Früh- und Spätschichten, Tagesein- und Ausklänge sind in starker Anlehnung an das Stundengebet entstanden. Weil es ganz und gar vom Wort der Bibel lebt, ist es durch und durch ökumenisch.

Den Tag geistlich einteilen: Mit der Laudes, dem Morgenlob; mit einem kurzen Gebet auf der Höhe des Tages; mit der Vesper, dem Abendgebet; mit der Komplet, dem Gebet zur guten Nacht; mit Lesehore oder Matutin, dem Lesegottesdienst, der aus der Heiligen Schrift lebt und die großen geistlichen Traditionen der Kirche zu Wort kommen lässt. Jede Tag- und Gebetszeit folgt dabei einem ähnlichen Schema: Eröffnung, Hymnus – ein Loblied auf Gott, Psalmen - zur Einstimmung auf die Bibellesung, ein Wort aus der Heiligen Schrift, die Antwort der Gemeinde, der zur Tagzeit passende Lobgesang (Benediktus, Magnifikat), Fürbitten, Vaterunser, Schlussgebet und Segen.

Also immer dasselbe? Ein Kommilitone meinte, man könne doch so nicht beten, denn man solle doch nicht „plappern wie die Heiden“ (Matthäus 6,7). Zunächst habe ich auch so gedacht: immer dasselbe. Doch im Laufe der Zeit habe ich „dasselbe“ schätzen gelernt: Die Tagzeiten des Stundengebets sind verlässlich – ich bin auf spontane Ideen nicht angewiesen, ich muss mir mit dem Beten keinen Stress machen, sondern die feste Form hilft mir, den Tag wirklich mit Gott zu bestehen. Den Reichtum der Heiligen Schrift, die unterschiedlichen Schwerpunkte innerhalb des Kirchenjahres, die feinen sprachlichen Nuancen entdeckt man erst im Laufe der Zeit, und zwar dann, wenn „es“ – das Beten – wirklich „läuft wie am Schnürchen“. Das Stundengebet ist für den Anfänger „immer dasselbe“ und fordert die Geduld ziemlich heraus; für den Fortgeschrittenen offenbaren sich wahre Schätze. Wieder einmal zeigt sich: Beten muss man können und kennen, auswendig und inwendig; es geht nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Mund, von außen nach innen. Die große Anziehungskraft kontemplativer Klöster als Orte der Stille – auch für so genannte Fernstehende – beruht häufig darauf, dass hier ein Gebet, das seine Würde in sich selbst hat, schon seit Jahrhunderten gepflegt wird. Die Treue zum Ganzen ist hier wichtiger als das Erlebnis des Einzelnen. Stundengebet ist nicht Event, sondern Treue; ist nicht einmaliges Erlebnis, sondern ständiges Eintauchen aus dem Alltag in die Gegenwart Gottes – und die Verbindung von beidem.

Zugegeben, eine Schwierigkeit gibt es: Das Stundengebet ist für die Gemeinschaft bestimmt. Es fällt schwer, sich allein darin zurechtzufinden. Es ist sehr trocken, ein Gemeinschaftsgebet zu sprechen und dabei alle Teile selbst übernehmen zu müssen. So wundert es kaum, dass Menschen, die das Stundengebet allein beten wollen oder müssen, bald damit aufhören. Entweder man sucht sich Gleichgesinnte, initiiert solche Gebetszeiten in seiner Gemeinde, sucht sich ein Kloster für Stille Tage – oder man lässt es bleiben.

Ein Ausweg könnte darin bestehen, alternative Formen zu suchen, die den gleichen Sinn haben wie das Stundengebet – nämlich die geistliche Einteilung des Tages –, die aber auch allein möglich sind. Eine eigene kleine Liturgie für das persönliche Morgen- und Abendgebet zum Beispiel: Kreuzzeichen, ein Psalm, eine kurze Schriftlesung, Vaterunser, Segen. Oder eine kurze Stille Zeit am Mittag: Ein Psalmwort, fünf Minuten Schweigen, Abschlussgebet, Segen. 

Ich selbst gestalte meine Gebetszeiten mit einer Kombination aus Stundengebet – dazu bin ich als katholischer Priester verpflichtet im Sinne eines Gebets mit der Kirche – und einigen persönlichen geistlichen Quellen: dem reichen Schatz an geistlichen Werken der Musik, allen voran die Kantaten, Passionen sowie Präludien und Fugen von Johann Sebastian Bach. Sehr häufig bete ich so am Klavier, an der Orgel – warum auch nicht? Der Sinn ist klar: Nicht was ich spiele, spreche oder lese, ist wichtig, sondern dass ich es tue, regelmäßig und zur Einteilung meines Tages, den ich morgens von Gott empfange und den ich Ihm abends wieder zurückgeben möchte – als ein Geschenk, aus dem ich etwas gemacht habe.

Bis morgen!
Stefan Jürgens