Mittwoch, 8. April 2020

Kleine Gebetsschule XXIII: Die Auswertung des Tages

Die Auswertung des Tages vor Gott, das aufmerksame Befragen des konkreten Lebens im Gebet, nannte man früher „Gewissenserforschung“ – doch man verbindet heute mit diesem Wort eher die Frage nach Sünde und Versagen, immer unter dem schlimmen Verdacht, das Christentum sei eine Erziehungsanstalt zur Verbesserung des guten Anstands.

Deshalb wird die Auswertung des Tages „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ oder „Gebet der Verantwortung“ genannt, wenn sie allein vor Gott geschieht, und „Revision de vie“, wenn sie in Gemeinschaft vor Gott geschieht; letzteres kann man mit „Noch einmal sehen des Lebens“ oder schlicht mit „Lebenserneuerung“ – denn darum geht es – übersetzen.

Beim „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ geht es um das Erfragen dessen, was Gott mir heute und hier zu sagen hat: ein betendes Nach-Denken des Lebens vor Ihm. Ich merke auf, um auf Gottes Wort Antwort zu geben durch mein konkretes Leben. Dieses Gebet beginnt mit einer Sammlung und setzt sich in drei Schritten fort, die meine Dankbarkeit, meine Fehler und Schwächen, aber auch Gottes Möglichkeiten mit mir zum Inhalt haben:

Sammlung: Ich wähle mir einen Ort und eine Zeit, da ich ungestört bin. Ich entspanne mich, atme gleichmäßig, ruhig und tief, und komme zur Ruhe. Ich mache mir bewusst: Ich bin auf Gott hin geschaffen, und Gott ist die Liebe. Ich lasse mir genügend Zeit, bis dieses Bewusstsein, dass Gott gegenwärtig und aufmerksam ist für mich, in mir lebendig ist.

Erster Schritt – Dank: Ich bitte Gott, Seine Wohltaten an mir entdecken und annehmen zu können. Ich schaue mir in Ruhe an, was Gott an mir Gutes tut. Ich danke Ihm dafür.

Zweiter Schritt – meine Dunkelheit: Ich bitte Gott, meine Fehler und Sünden ehrlich sehen zu dürfen und davon liebevoll befreit zu werden. Ich schaue das Negative in mir an, ohne Angst. Ich danke Gott, dass Er mich nicht beschämt, sondern mir verzeiht und Befreiung schenkt, die ich annehmen darf als Sein Kind.

Dritter Schritt – Gottes Möglichkeiten: Ich bitte Gott, Möglichkeiten eines neuen christlichen Lebensstils zu finden. Ich schaue auf Möglichkeiten, die eigene Freiheit verwandeln, erneuern zu lassen – als Voraussetzung für neues Tun. Ich danke und spreche meine Hoffnung aus, denn ich weiß um Gottes Hilfe.

Um meinen Tag vor Gott nachdenkend und betend durchzugehen, ist ein Leitfaden hilfreich, der mich den Tag aufschlüsseln lässt. Das kann der „Tagesfilm“ sein, also alle Ereignisse des Tages in ihrer Reihenfolge, die ich vor meinem geistigen Auge vorüberziehen lasse; ein Ereignis, eine Begegnung, ein Gespräch, ein Wort, das ich neu unter die Lupe nehme. Ich kann mir das „Geschenk des Tages“ ins Bewusstsein rufen, etwas Gelungenes, ein Glück, das ich heute erfahren durfte. Es kann auch eine Fehlhaltung sein, eine Schwäche, der ich immer wieder erliege; ein zu schreibender Brief, meine Unruhe, der fehlende Überblick. 

Als Leitfaden können biblische Texte dienen (die Zehn Gebote: Exodus 20 / Deuteronomium 5; die Seligpreisungen der Bergpredigt: Matthäus 5; das Hohelied der Liebe: Erster Korintherbrief 13; die Lesungen des jeweiligen Tages). Modelle der Theologiegeschichte haben sich bewährt (die theologischen Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe; die Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß; die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit), oder auch der Blick auf die innere Haltung, die mein Verhalten derzeit prägt, meine Sicht- und Denkweisen, bedeutende Worte und Zitate, mein Tagebuch oder auch ein Wort, das jemand über mich gesagt hat.

Das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ macht mich sensibel für die Stimme Gottes hinter den Ereignissen des Tages; ich erkenne Seine Handschrift immer deutlicher in manchem Rätselhaften auch an mir, das ich zunächst nicht verstehe. Wer ein bewusstes geistliches Leben führen will, der sollte eine solche geistliche Abendbetrachtung halten. 

Geschieht das Gebet in Gemeinschaft – „Revision de vie“ – so hören wir gemeinsam auf den Ruf Gottes im Alltag, sprechen darüber und machen im Austausch des Gehörten deutlich, dass wir Kirche sind, gemeinsam auf dem Weg. Eine gute geschwisterliche Korrektur ist hier inbegriffen, jedoch immer in Ehrfurcht voreinander. „Revision de vie“ macht eben auch aufmerksam auf Gottes Liebe im Leben; sie ist keine Supervision und kein psychodramatisches Rollenspiel, kein Coaching und heißer Stuhl – sondern: Gebet.

Bis morgen!
Stefan Jürgens